Reverse Mentoring: Alt lernt von Jung

Mentoring als Baustein der Personalentwicklung gibt es inzwischen in vielen Unternehmen. Das System ist altbewährt: Jung lernt von Alt. Meist. Doch in manchen Fällen lohnt es, die Rollen zu vertauschen: Im Reverse Mentoring coacht der Junior den Senior. Allerdings funktioniert das nur bei bestimmten Themen.


Von Michael Vogel

Manchmal sind die Jungen den Alten voraus. Da erzählt der Vater nach dem Besuch einer Weiterbildung begeistert über die Kreativitätstechniken, die er dort kennen gelernt hat, und die Tochter meint nur lapidar: “Das machen wir schon seit der Grundschule so.” Auch Unternehmen haben erkannt, dass jüngere Mitarbeiter in manchen Dingen die größeren Experten sind als die erfahrenen Kräfte und versuchen dieses Wissen zum Wohle der Organisation allgemein verfügbar zu machen. So hat das Pharma- und Chemieunternehmen Merck zum Beispiel seinen interessierten Führungskräften Auszubildende zur Seite gestellt, die sie in die Welt des Web 2.0 und der Sozialen Medien einführen. Der IT-Konzern IBM wiederum sammelte schon Erfahrungen mit gemischten Teams, bei denen eine Frau eine männliche Führungskraft für die typisch weiblichen Verhaltensweisen im Arbeitsalltag sensibilisierte.

Reverse Mentoring: Einmal die Rollen tauschen, bitte!

Reverse Mentoring lautet das Schlagwort für solche Ansätze. Anders als beim klassischen Mentoring, bei dem eine erfahrene Führungskraft eine Nachwuchskraft jenseits des Tagesgeschäfts unter ihre Fittiche nimmt, damit die Nachwuchskraft von den Erfahrungen des Managers profitieren kann, lautet beim Reverse Mentoring die Devise: Junior coacht Senior. Als geistiger Vater des Konzepts gilt der Mischkonzern General Electric: In den 1990er Jahren erkannte Unternehmenschef Jack Welch, dass sein Managementteam noch viel über das damals immer stärker an Bedeutung gewinnende Internet zu lernen habe.

Er forderte daher 600 Top-Führungskräfte auf, jüngere Mentoren im Konzern zu finden, die sich mit dem Internet gut auskannten und sich von diesen mit dem Web vertraut machen zu lassen. Welch ging mit gutem Beispiel voran. Wenig überraschend war, dass die meisten der Mentoren zwischen 20 und 35 Jahre jung waren. Schließlich gehörten sie der ersten Generation an, die mit dem Internet bereits während ihrer Jugend- und Ausbildungszeit in Berührung gekommen war.

Reverse Mentoring – inzwischen international ein Begriff

Die Deutsche Telekom praktiziert das Reverse Mentoring ebenfalls; nach Angaben des Unternehmens bestehen ständig zwischen 20 und 30 solcher Teams. Den Anfang machte Telekom-Chef René Obermann persönlich: Er suchte sich einen Trainee, um mit den Augen eines jungen Mitarbeiters die Welt des Web 2.0 kennen zu lernen. Die Personalentwicklung gibt den jungen Mentoren einen Leitfaden an die Hand, der umreißt, was die Inhalte des Reverse Mentoring sein können: von Facebook und Twitter bis zum Enterprise 2.0, über Wikis und Blogs, bis zum Aufsetzen eines Projekt-Wikis. Die Teams setzen ihre Schwerpunkte aber letztlich selbst und bestimmen auch Umfang und Frequenz der Treffen.

“Reverse Mentoring bezieht sich immer auf ein bestimmtes Thema, während es beim klassischen Mentoring um verschiedene Dinge gehen kann, etwa Sparringspartner zu sein oder Wissen weiterzugeben”, sagt Michael Heuser, Professor für Internationales Management an der Fachhochschule der Wirtschaft (FHDW) in Mettmann. Heuser hat in früheren Personalentwicklungspositionen Erfahrungen mit diesem Mentoring-Ansatz sammeln können. Jedenfalls lebt das klassische Mentoring davon, dass der Mentee von der Erfahrung seines Mentors profitieren kann. “Und deshalb funktioniert Reverse Mentoring natürlich auch nur bei Themen, bei denen der Junior mehr Erfahrungen hat als der Senior.” Kein Wunder, dass Internet, Soziale Medien und Web 2.0 die typischen Themen eines Reverse Mentoring sind.

Von der Wahrnehmung jüngerer Kollegen profitieren

Hans-Georg Willmann, Psychologe und Inhaber der Personalberatung JobID in Freiburg, glaubt, dass Reverse Mentoring auch oft “oft Projektcharakter” hat. Ist sozusagen das Lernziel erreicht, hat das Tandem aus jungem Mentor und erfahrenem Mentee seinen Zweck erfüllt. Klassische Mentoring-Verhältnisse bestehen dagegen oft länger als die zunächst vorgesehene Phase. Willmann sieht neben eher harten Technologiethemen auch durchaus weitere Ansatzpunkte für ein Reverse Mentoring. “Erfahrene Führungskräfte können mehr über die Einstellung und Haltung der Generation Y lernen, über Zeitgeist und Trends”, glaubt er. Zudem könnten Führungskräfte von der “unverbauten Wahrnehmung” der jungen Kollegen profitieren.

Gerade mit Blick auf den stärker an Bedeutung gewinnenden Diversity-Ansatz kann das Reverse Mentoring auch für den HR-Bereich selbst interessant sein: “Auf diesem Wege erfahren Personalentwickler aus erster Hand, was die jungen Mitarbeiter wollen. Darauf können sie dann wiederum die Rahmenbedingungen und Angebote des Unternehmens abstimmen.”

Die Psychologie der Situation

Wobei Michael Heuser darauf hinweist, dass es beim Reverse Mentoring neben der Erfahrung des Mentors auch noch eine zweite Hürde gibt: die Psychologie der Situation. “Die bestehende Hierarchie zwischen Mentor und Mentee lässt sich beim Reverse Mentoring nicht wegdefinieren. Im klassischen Mentoring stört das nicht, ein Mentor kann sogar mal barsch werden, wenn er den Mentee aufrütteln will. Beim Reverse Mentoring wird das nicht vorkommen.”