Manager wechseln die Seiten
In der Personalentwicklung unterscheidet man zwischen arbeitsplatznahen Methoden und Training “off-the-job”. Dass arbeitsplatzferne Angebote mehr als nur Vorträge oder Outdoor-Übungen sein können, zeigt das Programm “Seitenwechsel”.
“Bei den stärksten Berührungsängsten liegen auch die größten Lernpotenziale”, fasst Piet Smits seine Erfahrungen auf einer Drogenentzugsstation der Asklepios Klinik Nord in Hamburg zusammen. Smits hat als Personalleiter der bonprix Handelsgesellschaft mbH (Hamburg) an dem Programm “Seitenwechsel” der Patriotischen Gesellschaft von 1765 (Hamburg) teilgenommen. Eine Woche lang hat er mit chronisch mehrfachgeschädigten und schwangeren Drogenabhängigen gearbeitet.
Hemmschwellen überwinden
“Das war für mich ganz weit weg”, sagt Smits. Mit Drogenabhängigen hatte er bisher in seinem Leben kaum zu tun, und dennoch seien immer “irgendwelche Bilder” im Kopf und vor allem unangenehme Gefühle im Bauch aufgetaucht, wenn es um das Thema Drogen ging. “Die Hemmschwelle und eine gewisse Angst, mich mit Drogenabhängigen zu beschäftigen, die oft HIV oder Hepatitis haben, war sehr hoch”, sagt der bonprix-Personalleiter.
Solche unbewussten Bilder und Hemmschwellen im Umgang mit Menschen erschweren als Führungskraft auch bei den eigenen Mitarbeitern das Erkennen von Persönlichkeitseigenschaften, Problemen und Lösungsmöglichkeiten. Seit neun Jahren vermittelt daher die Patriotische Gesellschaft Manager für eine Woche in soziale Einrichtungen, Die Führungskräfte haben dort die Möglichkeit, in schwierigen sozialen Situationen neue Erfahrungen zu sammeln und neue Perspektiven einzunehmen. Ziel ist es, die eigenen Denkmuster kritisch zu hinterfragen, um – wieder zurück im Job – besser auf sein eigenes Umfeld eingehen zu können.
Stippvisiten im Strafvollzug oder im Drogenbereich
Fast 900 Manager hat die Patriotische Gesellschaft schon vermittelt. Wohin die Führungskräfte bei ihrem Einsatz gehen, entscheiden sie endgültig nach dem Besuch der “Marktbörse”. Hier stellen sich die beteiligten sozialen Einrichtungen in den Räumen der gemeinnützigen Organisation vor und bieten den Führungskräften das persönliche Informationsgespräch an. Am Seitenwechsel nehmen unter anderem Einrichtungen aus dem Drogenbereich, dem Strafvollzug (Integration), der Obdachlosenhilfe, der Jugend- und Behindertenhilfe sowie Pflegeorganisationen teil.
Bei bonprix ist der Seitenwechsel inzwischen verpflichtender Bestandteil des Personalentwicklungsprogramms für die Bereichsleiter und Geschäftsführer. Anders als in den üblichen Seminaren stehe man beim Seitenwechsel “mitten im realen Leben”, meint Smits. “Hier sitzt man nicht auf der Tribüne, sondern muss sich ohne den Status einer Führungskraft in einem gänzlich fremden Arbeitsumfeld zurecht finden”, berichtet der Personalleiter. Im Klinikum Nord ist Smits mit Situationen konfrontiert worden, für die er noch kein angemessenes “Verhaltensrepertoire” aufgebaut, meist aber schon bestimmte Vorstellungen parat hatte. “Die musste ich zum Teil revidieren”, sagt Smits.
Realistische Ziele formulieren
Bisher sei er davon ausgegangen, dass jeder Mensch, der etwas erreichen wolle, das auch schaffen kann. Bei Drogenabhängigen gehe es aber nicht nur um die Frage des Wollens, sondern insbesondere um die des Könnens. Smits zeigt sich beeindruckt davon, wie in dem Klinikum Arzt und Patient “realistische Minimalziele” formulieren, die auch der Vorstellung des Patienten entsprechen und für ihn tatsächlich erreichbar sind.
Menschen ernst nehmen und sich im wahrsten Sinne des Wortes mit ihren existenziellen Bedürfnissen auseinanderzusetzen, das können die Seitenwechsler auch im Hospiz Leuchtfeuer in Hamburg. Dort ist Edeltraud Meroth Leiterin der Hauswirtschaft und Betreuerin der von der Patriotischen Gesellschaft vermittelten Führungskräfte. 19 Seitenwechsler waren bisher in dem Hospiz.
Auseinandersetzung mit existenziellen Bedürfnissen
“Sterben gehört zum Leben”, sagt Meroth. Und dennoch ist für Viele die Aufgabe, Sterbende zu betreuen und sie bis zum Tod zu begleiten eine schier unglaubliche Herausforderung. Meroth empfiehlt zwar den Seitenwechslern, im Hospiz alle Dienste der Betreuung und Begleitung mit zu machen. “Individuelle Absprachen sind aber immer möglich und auch nötig, um die eigenen Grenzen und die der Bewohner nicht zu überschreiten”, sagt Meroth.
Oft seien die Seitenwechsler erstaunt darüber, wie “normal das Leben im Hospiz ist”, sagt Meroth. Gleichwohl könnten die Manager vor allem drei Dinge lernen. Wut und Tränen auszuhalten, Gelassenheit und den Wert, den Zeit hat, besser einzuschätzen. “Natürlich gibt es bei uns auch Hektik, aber Eile ist für Sterbende nicht gut”, sagt Meroth. Das bedeute auf der einen Seite, sich viel Zeit für einen Menschen zu nehmen, wenn der das Bedürfnis danach habe. Anderseits aber auch, Wünsche pünktlich zu erfüllen. “Sich einlassen” in ganz persönliche Kontakte, so umschreibt Meroth die Möglichkeiten, die der Seitenwechsel bietet.
Eigene Hemmungen überwinden
Weil das Thema Tod über weite Strecken ein gesellschaftliches Tabuthema und für ihn selbst mit einer gewissen “Scheu” verbunden ist, hat Wolfgang Wietbrok, Bereichsleiter Human Resources der Aurubis AG (früher Norddeutschen Affinerie AG) in Hamburg, eine Woche lang auf der Palliativstation im Asklepios Westklinikum in der Hansestadt gearbeitet.
“Als Personalverantwortlicher muss ich häufig schnelle Entscheidungen treffen”, sagt Wietbrok. Der Umgang mit Schmerzpatienten, für die in der Regel keine Möglichkeit der Heilung besteht, erfordere dagegen intensives Zuhören und Geduld. “Diese Tugenden sollten in einem Wirtschaftsunternehmen und auch bei mir ganz persönlich besser ausgeprägt sein”, sagt Wietbrok.
In die Praktikanten-Rolle schlüpfen
Dazu lernen habe er gerade deswegen können, weil er auf der Palliativstation nicht als Fachmann oder etwa als Führungskraft, sondern als “Praktikant” tätig war. “Viele Bereiche des Lebens bleiben mir schon zeitbedingt verschlossen”, sagt Wietbrok zu seiner Arbeit bei der Aurubis AG. Jetzt sehe er viele Dinge mit anderen Augen. “Mir ist bewusst geworden, wie wichtig es ist, sich auf die entscheidenden Themen zu konzentrieren, anstatt sich über Belanglosigkeiten aufzuregen oder sich unnötig lange mit ihnen zu beschäftigen”, berichtet Wietbrok.
Für ihn sei zwar allein aufgrund des Seitenwechsels eine konkrete Veränderung seiner Tätigkeit im Arbeitsalltag nur schwer zu erkennen, meint Wietbrok zum Transfer seiner Lernerfahrungen, wie es bildungsökonomisch so schön heißt. “Ich habe mir aber fest vorgenommen, künftig genauer und intensiver zuzuhören und sensibler zu sein für die Probleme der Mitarbeiter”, so Wietbrok.
Ehrliches Feedback
“Das ist kein Rollenspiel”, sagt Doris Tito, Leiterin des Programms Seitenwechsel bei der Patriotischen Gesellschaft. Die Manager seien dankbar für das ehrliche und längst nicht immer nur angenehme Feedback, das sie von den Patienten erhalten. “Viele erkennen, wie wichtig es ist, Probleme direkt anzusprechen und dennoch sie nicht sofort lösen zu wollen”, resümiert Tito die Auswertungsgespräche, die die Manager nach ihrem Einsatz führen. Nach dem Seitenwechsel vertrauten die Führungskräfte mehr ihrem Bauch. “Sie werden sensibilisiert und lernen authentischer und differenzierter zu führen”, berichtet Tito.